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Was Corona und Lotto gemeinsam haben

Wahrscheinlichkeitsrechnung lernt man ja in der Schule. Die Konsequenzen und Schlüsse daraus widersprechen allerdings massiv unserem “Bauchgefühl”, insbesondere das Gesetz der großen Zahlen.

Wenn man etwa eine Münze wirft, so ist die Wahrscheinlichkeit jeweils 1:2, dass die Münze Kopf oder Zahl zeigt (= Anzahl der günstigen Ergebnisse durch Anzahl der möglichen Ergebnisse). Wenn man die Münze sehr oft wirft, so wird sich das Verhältnis von Kopf zu Zahl gut an 1:2 annähern, bei etwa der Hälfte der Würfe wird also Kopf, bei den anderen Hälfte Zahl das Ergebnis sein. Es ist jedoch nicht möglich, das Ergebnis eines einzelnen Wurfes vorherzusagen: selbst wenn bei den bisherigen Würfen viel häufiger Kopf kam, steigt die Wahrscheinlichkeit für Zahl daher nicht an.

Insbesondere besagen diese Gesetze der großen Zahlen nicht, dass ein Ereignis, welches bislang unterdurchschnittlich eintrat, seinen „Rückstand“ irgendwann ausgleichen und folglich in Zukunft häufiger eintreten muss. Dies ist ein bei Roulette- und Lottospielern häufig verbreiteter Irrtum, die „säumige“ Zahl müsse nun aber aufholen, um wieder der statistischen Gleichverteilung zu entsprechen. Es gibt daher kein Gesetz des Ausgleichs.

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Das widerspricht unserem Gerechtigkeitssinn – die Münze merkt sich aber dennoch nicht, welches Ergebnis im Rückstand ist. Das lässt sich auf viele Bereiche des Lebens anwenden. Beim Würfeln in Gesellschaftsspielen lässt sich das gut beobachten. Wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit für den “Sechser” 1:6 ist – dennoch lässt sich nicht unmittelbar vorhersagen, was der nächste Wurf ergeben wird, was bei Spielen wie “Mensch ärgere dich nicht” durchaus für familiäre Verwerfungen sorgen kann. Wir wissen aus dieser Erfahrung ja, dass es durchaus möglich ist, dutzende Runden lang keinen Sechser zu würfeln – dennoch liegt die Wahrscheinlichkeit dafür vor jedem einzelnen Wurf wieder bei 1:6

In vielen Fällen wissen wir die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen jedoch nicht, sondern müssen sie abschätzen. Dabei verwendet unser Gehirn sogenannte Heuristiken, das sind Methoden um mit unvollständigen Daten in kurzer Zeit dennoch zu praktikablen Entscheidungen zu kommen. Evolutionär waren diese Heuristiken zur Risikobeurteilung wichtig (“soll ich jetzt vorm Säbelzahntiger davonlaufen oder nicht”), aber sie führen halt vor allem zu raschen, aber nicht unbedingt richtigen Ergebnissen.

Eine dieser Denkfallen bei der Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten ist dabei die sogenannte “Verfügbarkeitsheuristik”, die schon in den 1970ern beschrieben und dokumentiert wurde. Danach beurteilen Menschen die Häufigkeit von Ereignissen danach, wie schnell ihnen Beispiele dafür einfallen, etwa weil sie besonders spektakulär sind. So wird die Wahrscheinlichkeit massiv überschätzt, durch Mord oder Flugzeugabsturz zu sterben, einfach weil die Berichterstattung über derartige Einzelfälle viel intensiver ist als bei den häufigsten Todesarten. Weitere Heuristiken des Gehirns sind die Ankerheuristik und die Repräsentativitätsheuristik, die uns bei Entscheidungen oder Risikoabschätzungen helfen wollen, uns aber zu massiven Fehlurteilen führen können.

Jetzt in der Pandemie haben all diese Phänomene ihren gemeinsamen Auftritt. Denn es geht nun darum, was für uns als Gruppe gut ist: das ist die Verringerung der Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu erkranken oder gar zu sterben, einfach weil nur eine begrenzte Anzahl an Spitalskapazitäten vorhanden ist. Andererseits stellt natürlich jeder Mensch einen Einzelfall dar. Also vergleichen Menschen COVID-19 mit der Grippe, aber unterschätzen die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, dran zu erkranken oder zu sterben (mit der Begründung, dass ja ohnehin ein Gutteil der Infizierten keinerlei Symptome hätten) – spielen aber weiterhin wöchentlich Lotto und hoffen auf den großen Gewinn. Eine weitere beliebte Fehlerquelle ist der “Prävalenzfehler”, der besonders bei der Beurteilung der Zahl der Impfdurchbrüche zu Fehleinschätzungen führt (siehe Bild rechts).

Es werden Einzelfälle vor den Vorgang gezerrt und so getan, als ob diese repräsentativ wären: Menschen, die trotz Impfung schwer erkranken (um die Wirksamkeit der Impfung in Zweifel zu ziehen). Menschen die sich nicht impfen lassen, weil es für sie als Einzelfall nicht garantiert ist, dass sie nicht doch erkranken (“mir egal, was für die Gruppe gut wäre, mir persönlich bringts ja nix”). Impfdurchbrüche werden perfide abgefeiert und/oder in ihrer Anzahl deutlich überschätzt (obwohl für den Großteil der Menschen die Impfung die Wahrscheinlichkeit massiv verringert, schwer zu erkranken oder gar auf der Intensivstation landen, siehe weiter unten). Menschen die positiv getestet wurden, aber keine Symptome haben (“seht her, das ist doch nicht gefährlich!”). Menschen, die sich angeblich nicht impfen lassen können (tatsächlich handelt es sich um 0.3-0.5% der Bevölkerung). Einzelfall-Argumentationen wie “ich kenne zwei Geimpfte, aber keine Ungeimpften die infiziert wurden und viele mehr. Und besonders auffällig schreien diejenigen, die ihren eigenen Einzelfall vor das Wohl der Gruppe stellen. Aber nichts davon ist geeignet, um auf die tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten zu schließen:

  • Die Wahrscheinlichkeit, einen Lottosechser zu haben, ist 1:8.145.060 – man müsste also bei einer Ziehung knapp über 8,1 Millionen unterschiedliche Tipps spielen, um sicher einen Sechser zu erzielen. Oder 8 Millionen Wochen lang je einen Tipp abgeben – in diesem Einzelfall kanns allerdings dennoch schon kommende Woche soweit sein, oder eben auch nie (denn die Lottokugeln haben keine Verpflichtung, jemals die getippte Kombination zu ergeben)!
  • Die Wahrscheinlichkeit, sich mit COVID-19 zu infizieren1, war in Österreich in den vergangenen 7 Tagen 1:157, insgesamt seit Beginn der Pandemie etwa 1:11 – für den einzelnen Menschen lässt sich für MORGEN dennoch keine Vorhersage machen.
  • Die Wahrscheinlichkeit, am COVID-19 zu erkranken2, ist mit vollständigem Impfschutz um 18x geringer. Die Wahrscheinlichkeit, mit COVID-19 im Krankenhaus zu landen, ist gar um 60x geringer als mit unvollständigem oder keinem Impfschutz! Für den Einzelfall lassen sich dennoch keine Prognosen abgeben.
  • Die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu versterben3, war in Österreich seit Beginn der Pandemie 1:774 – es war also um 10.523 mal wahrscheinlicher, als einen Lottosechser zu erzielen. Trotzdem wissen wir nicht, wer genau in Zukunft dran versterben wird.

Das Gesetz der großen Zahlen im Gegensatz zum Einzelfall – und wie sehr Menschen sich in der Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten irren können – nie waren diese Phänomene so eindrücklich zu beobachten wie in den letzten beiden Jahren. Oder hättest DU gedacht, dass ein Lottosechser so viel weiter weg ist, als der Tod durch COVID-19?

Impfen hilft der Gruppe (=uns allen) und senkt die Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus zu landen, einen schweren Verlauf zu haben oder dran zu sterben. Schwurbeln über Einzelfälle hilft uns nicht weiter. Denn Zaubermittel gibts halt nur bei den Gebrüdern Grimm.

Weiterführende Links:

  • Mimikama – das Portal gegen Fake-News. Wenn du dir nicht sicher bist, ob es sich bei einer Nachricht um eine ernstzunehmende Meldung oder um Bullshit handelt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch (sic!), hier den Faktencheck zu finden.

1: Datenbasis: Einwohnerzahl 8,917 Mio, 8.008 Neuinfektionen pro Tag als Schnitt der letzten 7 Tage vor 9.11.2021, das sind also 56.056 in der vergangenen Woche. Gesamt 804.003 Genesene am 8.11.2021.

2: Datenbasis: Baden Württemberg veröffentlicht im Covid-19-Tagesbericht jeden Tag genaue Werte zur Inzidenz nach Impfstatus. Am 10.11.2021 waren das folgende Daten:
Inzidenz (vollständiger Impfschutz): 43,7
Inzidenz (unvollständiger/kein Impfschutz): 829,2
Hospitalisierungsinzidenz (vollständiger Impfschutz): 9,0
Hospitalisierungsinzidenz (unvollständiger/kein Impfschutz): 543,0
In Österreich werden diese Daten (leider!) so nicht erhoben bzw. stehen öffentlich nicht zur Verfügung.

3: Datenbasis: Einwohnerzahl 8,917 Mio, gesamt 11.515 Todesfälle

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Ernst Michalek
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